Vergänglicheit & Hoffnung

«Mamma! Guck mal; da ist wieder einer gestorben!» ruft meine Tochter mir aus der Küche entgegnen. Nein; bei uns in der Küche liegen keine toten Leute rum und sie spricht auch nicht von meinen arg vernachlässigten Küchenkräutern auf dem Fensterbrett, sondern: Wir wohnen in Sichtweite eines Altersheims...

Unsere Nachbarn sind dutzende Senioren, die in modernen Zimmern ihren Lebensabend verbringen. Da ist die Dame, die immer morgens in ihrem weissen Nachthemd zum offenen Fenster rausschaut und das Wetter prüft...

Gedenke daran, dass einmal alles zu Ende geht,dass es einmal heisst: nun mach deine Rechnung über dein Leben...

Dietrich Bonhoeffer


Oder eine andere, die gerne auf ein Schwätzchen am Gartenzaun anhält um zu plaudern, bevor sie ihres «Rollator-Weges» dahinzieht. Eine weitere Frau sitzt jeweils am Abend hinter ihrem Fenster am Tisch und puzzelt bis zum Zapfenstreich. Über die Jahre entwickelt man eine emotionale Beziehung zu diesem grauen Kasten mit seinen grauen Häuptern. Sie ist nicht persönlich und doch irgendwie intim. Denn wenn eines Tages die Vorhänge eines Zimmers offenstehen und keine Möbel mehr sichtbar sind, dann wissen wir; ein/e Bewohner/in hat sich für immer verabschiedet…

 

 

Dieses gähnende Loch inmitten des Lebens, lässt mich jedes Mal eine Weile innerhalten und am Küchenfenster stehen bleiben. Wer war es wohl? Ist diese Person leicht gegangen oder war es ein Kampf? Waren Angehörige da, oder musste sie allein sterben? Auch bei meiner Arbeit werde ich immer wieder mit dem Alter und der Gebrechlichkeit konfrontiert. Ich kann nicht so tun als gäbe es nur das endlose Leben, denn mir wird fast täglich vor Augen geführt, dass genau dieses Leben endlich ist. Egal wie der Tod kommt; ob abrupt, schleichend, überraschend oder erwartet; er ist für jeden von uns der Schlusspunkt auf dieser Erde.

 

Im Umgang mit alten Menschen realisiere ich immer wieder, dass mein Leben und mein Sterben einen Zusammenhang hat. Wie ich gelebt habe, entscheidet darüber wie ich sterbe. Damit meine ich nicht woran ich sterbe, sondern WIE ich sterbe. Ich habe vielen Leuten beim Sterben zugesehen und beigestanden. Ich habe schöne Erlebnisse im Kopf und schlimme. Menschen können versöhnt und in Frieden sterben, aber auch bitter und im Kampf. Aber gehen tun wir alle!

 

 

Oft erzählen mir die alten Leute auf der Arbeit ihre Lebensgeschichten und schnell spüre ich jeweils, ob ein Klient noch unerledigte Geschäfte hat, wie zu Beispiel unversöhnte Beziehungen oder ob seine Geschäfte in allen Belangen geregelt sind. Manchmal höre ich Sätze wie «ich habe immer gedacht ich hätte noch mehr Zeit, aber jetzt ist es zu spät.» oder «ich fühle mich innerlich noch so jung»., «ich bin nie über diesen Verlust hinweggekommen…» und so weiter. Klar, ich höre auch die anderen Geschichten. «ich bin bereit zu sterben» «ich hatte ein erfülltes Leben» «ich habe viel gegeben, aber auch viel zurückerhalten» - mich erschreckt es jedoch immer wieder wie viele doch unzufrieden, unversöhnlich und sich ans Leben klammernd sterben.

 

 

Und während ich einmal mehr in ein leeres Altersheimzimmer blicke, stelle ich mir die Frage wie ich wohl alt werden würde. Da kommt mir die Bemerkung einer mir lieben Klientin in den Sinn: « Weisst du, es ist gut, dass man nicht weiss, was einem alles erwartet.» Ich weiss nicht was mich erwartet, aber trotzdem bin ich dem was kommt nicht hilflos ausgeliefert! Ich kann nicht bestimmen ob ich gesund oder krank alt werde, aber ich kann heute und jeden Tag entscheiden, wie ich jetzt lebe. Darauf habe ich einen Einfluss! Ich entscheide mich dazu versöhnte Beziehungen zu leben, immer wieder eine Hand zu reichen, schwierigen Situationen nicht aus dem Weg zu gehen. Dazu gehört auch zu Fehlern zu stehen und Menschen die mich verletzten zu vergeben. Ich möchte innerlich jung und beweglich bleiben, indem ich mich für die Themen meiner Kinder und die der nächsten Generation interessiere. Und ich will mich immer mal wieder auf etwas Neues einlassen.

 

Und wenn ich dann einmal alt bin und meine Zeit kommt; wenn mein Zimmer im Altersheim kurz vor der Räumung steht; dann möchte ich aus vollstem Herzen sagen können: «Ich hatte ein erfülltes Leben. Ich bin bereit diese Welt zu verlassen!» Von der Endlichkeit in die Ewigkeit – das ist und bleibt meine tröstende Hoffnung: Wie ich heute lebe, zählt für Morgen und für die Ewigkeit!

 

...Und dass dann der Augenblick des Sterbens über dich kommt mit der Gewissheit, dass die Welt eine Welt des Todes ist und dass der Gewalt der Zeit nichts standhalten kann, wenn nicht das eine – die Ewigkeit, dass es aus ist mit dir und mit mir. … Lasst uns an die Grenzen der Welt, der Zeit denken, und es wird ein Wunderbares geschehen. Die Augen werden uns aufgetan dafür, dass die Grenze der Welt, das Ende der Welt – der Anfang eines Neuen ist, der Ewigkeit. Hier verliert die Zeit ihre Gewalt an die Ewigkeit, das Letzte in der Welt, der Tod, wird zu einem Vorletzten.

Dietrich Bonhoeffer

Quelle: Barcelona, Berlin, Amerika 1928-1931, DBW Band 10, Seite 501f


Kommentar schreiben

Kommentare: 3
  • #1

    Mürner Barbara (Mittwoch, 23 Oktober 2019 18:34)

    So träffend gschribe ❤️i wott das ou mal chönne säge. Danke

  • #2

    mammandrea (Mittwoch, 23 Oktober 2019 19:13)

    Danke Barbara! Daseinmal so sagen zu können, scheint mir ein gutes Lebensziel (-;

  • #3

    Priscilla (Mittwoch, 23 Oktober 2019 19:26)

    Wow, danke, Andrea!